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Stuttgarter Zeitung | 27. Juli 2013
Ob blind oder sehend: Alle sitzen in einem Boot
Rudern für Sehbehinderte auf demMax-Eyth-See
Auf demMax-Eyth-See lernen Blinde und Sehbehinderte an einemNachmittag rudern. EinWiderspruch ist das nicht, ihre Probleme sindmitunter dieselben wie die der Sehenden.
Von Yannik Buhl
STUTTGART . Alle sitzen sie in einem Boot: Sehende und Sehbehinderte. Das Boot ist einRuderboot, heißt „Moeve“ und ist soeben in See gestochen. Doch noch nimmt es keine Fahrt auf, es gondelt ziellos wenige Meter vom Steg am Max-Eyth-See entfernt auf demWasser. „Wennwir zu sechst rudern und das nicht synchron tun, funktioniert das nicht“, sagt Steuermann Bernd Blumhardt vomMarine-Verein Stuttgart.
Eine Lektion in Sachen Koordination auf dem Max-Eyth-See. Foto Max Kovalenko
Seine Rudermannschaft gibt sich Mühe, aber mit der Koordination der Ruder, Riemen genannt, klappt es noch nicht auf Anhieb. Denn die sechs Männer und Frauen in dem Boot haben eines gemeinsam: sie sind blind oder sehen nur noch sehr wenig.
Das sprichwörtliche Boot, in dem sie alle gemeinsam sitzen, ist genau die Botschaft, die Harald Eigler an diesem Samstagnachmittag transportierenmöchte. Der studierte Sozialarbeiter istVorstandsvorsitzender des VereinsAllgemeine Blinden- und Sehbehindertenhilfe (ABSH) und mitverantwortlich für dieses außergewöhnliche Projekt der Inklusion. „Es geht darum, etwas zu machen, was man normalerweise nicht tut“, erklärt Harald Eigler. So wolle er das Selbstbewusstsein seiner Schützlinge stärken und ihnenBerührungsängste nehmen. „Beimgemeinsamen Rudern lernen sie zusätzlich, wie man sich aufeinander verlassen muss“, sagt er.
Inzwischen hat sich die „Moeve“ langsam, aber stetig vomSteg entfernt.DieStimmung an Bord des kleinen Boots ist ausgelassen, mit jedem Ruderschlag sitzen die Bewegungen besser. „Gibt es eigentlich auch einen Blindenhund fürsWasser, der dann das Boot zieht?“, scherzt einer.
Bernd Blumhardt erklärt den Sehbehinderten indes die verschiedenen Stellungen, die siemit demRiemen beimRudern nacheinander durchführen sollen: „Position eins: Oberkörper und Riemen nach vorn. Zwei: Riemen ins Wasser und heranziehen. Drei: der Riemen liegt wieder waagrecht und die Ruderblätter sind über demWasser.“
Einige tauchen mit dem Ruder zu tief ein, und der Riemen springt aus der Befestigung amBoot. „Das Ruderblatt sollte nur zu zwei Dritteln im Wasser sein“, mahnt SteuermannBerndBlumhardt.
Die Idee, Sehbehinderte in ein Ruderboot zu setzen, hatte Jörg Töllner. Er ist Mitglied in der ABSH und selber sehbehindert. „Ich rudere auch, undmirwar klar:wenn ich das kann,könnendasdie anderenauch.Es ist etwas, dasBlinde tun können“, sagt er.
Auch sei es einfach ein tolles Gemeinschaftserlebnis. Sein ebenfalls blinder BruderUwe istVorsitzender desMarine-Vereins Stuttgart, so kam eines zum anderen. Während Jörg Töllner anfangs einen „Holzsalat aus Riemen“ erwartet, ist sein Bruder optimistischer: „Das kriegen wir schon in den Griff.“
Der Steuermann spricht den Takt vor
Die „Moeve“ hat nun schon fast das andereUfer erreicht. Sie ist an diesemheißen Tag nicht das einzige Boot auf dem Max-Eyth- See, immerwieder fährt ein Tretboot vorbei. VomWasser aus erstreckt sich ein tollerAusblick auf die Weinberge am Neckar. Die Mannschaft kann ihn jedoch nicht genießen. „Eins, zwei, drei“, wiederholt Bernd Blumhardt immerwieder.
Normalerweise müsste er das nicht, da schaut man den Takt vom Vordermann ab. Weil das mit Sehbehinderten nur schwer funktioniert, gibt er ihn vor. „Wir sind keine Einzelkämpfer“, bekräftigt Bernd Blumhardt immer wieder, „ihr seid zu schnell, da kommt ihr durcheinander.“ Es sind Probleme, mit denen sehende Ruderer anfangs genauso zu kämpfen haben.
Als die „Moeve“ wieder anlegt, sind alle erschöpft – vom Rudern natürlich und von derHitze. An Bord der „Moeve“waren auch Fabrizio (23) und Dennis (27). „Jetzt bin ich kaputt, aber es hat Spaß gemacht“, sagt Dennis. Beide haben noch nicht viel ErfahrungmitWassersport, Dennis saß vor vielen Jahren einmal in einemRuderboot, Fabrizio ist einmal Kajak gefahren. „Der Sehunterschied hat die Koordination ein wenig erschwert“, resümiert Dennis, der nur auf einemAuge siehtundauchhiernur etwa vier Prozent. Fabrizio hat noch zehn Prozent Sehkraft. Er sagt: „Teilweise sehe ich schon, wo das Ruder ist, aber es ist schon schwieriger, auf denRhythmus zu achten.“
In einem sind sich die beiden einig: „Es war ein besonderes Gefühl, denn so etwas machtman nicht jeden Tag.“